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Context Engineering: Der Schlüssel zu zuverlässigen KI-Systemen

9.7.20256 min read
KIContext EngineeringAutomatisierungSoftwareentwicklung

Context Engineering: Der Schlüssel zu zuverlässigen KI-Systemen

Die Entwicklung von KI-Anwendungen steht vor einem entscheidenden Wendepunkt. Während die ersten Jahre von cleveren Prompt-Tricks und experimentellen Ansätzen geprägt waren, kristallisiert sich jetzt heraus, was wirklich funktioniert und was nicht. Context Engineering hat sich dabei als die zentrale Disziplin herauskristallisiert, die über Erfolg oder Scheitern von produktiven KI-Systemen entscheidet.

Was ist Context Engineering?

Context Engineering ist die Kunst und Wissenschaft, dynamische Systeme zu entwickeln, die einem Large Language Model zur richtigen Zeit die richtigen Informationen und Tools im richtigen Format bereitstellen. Diese Definition, die von Experten wie Tobi Lütke und der LangChain-Community geprägt wurde, geht weit über das klassische Prompt Engineering hinaus.

Während Prompt Engineering sich darauf konzentrierte, die perfekte Formulierung für eine einzelne Anfrage zu finden, befasst sich Context Engineering mit dem Design ganzer Systeme. Es geht darum, intelligente Mechanismen zu schaffen, die kontinuierlich entscheiden, welche Informationen ein LLM zu welchem Zeitpunkt benötigt.

Warum Context Engineering wichtig ist

Das Problem der wachsenden Komplexität

Jeder, der schon einmal versucht hat, ein LLM bei komplexeren Aufgaben einzusetzen, kennt das Problem: Was bei einfachen Demos noch funktioniert, bricht bei realen Anwendungen schnell zusammen. Je größer das Repository, je länger die Konversation, je mehr Tools zur Verfügung stehen, desto unzuverlässiger werden die Ergebnisse.

Der Grund liegt in der begrenzten "Arbeitsgedächtnis"-Kapazität von LLMs. Wie Andrej Karpathy treffend formuliert hat: LLMs sind wie ein neues Betriebssystem, bei dem das Context Window dem RAM entspricht. Genau wie bei einem Computer müssen wir intelligent verwalten, was in diesen begrenzten Speicher geladen wird.

Von Prompt Engineering zu Context Engineering

Die Entwicklung lässt sich in drei Phasen unterteilen:

  1. Prompt Engineering: Fokus auf die optimale Formulierung einzelner Anfragen
  2. RAG (Retrieval Augmented Generation): Anbindung externer Datenquellen
  3. Context Engineering: Intelligente, dynamische Kontextverwaltung für Agenten

Diese Entwicklung spiegelt die wachsende Komplexität der Anwendungen wider. Was mit einfachen Chatbots begann, entwickelt sich zu langlebigen Agenten, die über Hunderte von Interaktionen hinweg kohärent arbeiten müssen.

Die vier Strategien des Context Engineering

Lance Martin hat in seiner wegweisenden Arbeit vier zentrale Strategien identifiziert, die beim Context Engineering zur Anwendung kommen:

1. Write - Kontext persistent speichern

Die erste Strategie befasst sich damit, wichtige Informationen außerhalb des Context Windows zu speichern. Genau wie Menschen Notizen machen, um sich an wichtige Details zu erinnern, müssen auch KI-Agenten lernen, relevante Informationen für die spätere Verwendung zu sichern.

Praktische Anwendungen:

  • Scratchpads: Temporäre Notizen während der Aufgabenbearbeitung
  • Memory-Systeme: Langfristige Speicherung von Benutzerpräferenzen und Erfahrungen
  • State-Management: Strukturierte Speicherung des aktuellen Arbeitsstands

Ein eindrucksvolles Beispiel ist Anthropics Multi-Agent-Researcher, der seinen Forschungsplan in einem separaten Memory-System speichert, da bei Überschreitung von 200.000 Tokens automatisch gekürzt wird.

2. Select - Gezielter Kontext-Abruf

Die zweite Strategie konzentriert sich darauf, zur richtigen Zeit die richtigen Informationen abzurufen. Nicht alle gespeicherten Informationen sind zu jedem Zeitpunkt relevant, daher braucht es intelligente Mechanismen zur Auswahl.

Herausforderungen beim Retrieval:

  • Relevanz bestimmen: Welche Informationen sind für die aktuelle Aufgabe wichtig?
  • Timing: Wann sollte welcher Kontext geladen werden?
  • Qualität der Suche: Wie finde ich die besten Treffer in großen Datenbeständen?

Simon Willison beschreibt ein interessantes Negativbeispiel: GPT-4o fügte automatisch Standortinformationen in ein Bild ein, basierend auf gespeicherten Erinnerungen – obwohl dies nicht gewünscht war. Solche Fälle zeigen, wie wichtig präzises Retrieval ist.

3. Compress - Intelligente Informationsverdichtung

Die dritte Strategie befasst sich mit der Reduzierung von Token-schweren Inhalten auf das Wesentliche. Agent-Interaktionen können schnell Hunderte von Gesprächsrunden umfassen, wodurch das Context Window überlastet wird.

Kompressionsansätze:

  • Zusammenfassung ganzer Konversationen: Rekursive oder hierarchische Verdichtung
  • Tool-Output-Kompression: Reduzierung token-schwerer API-Antworten
  • Phasen-Zusammenfassung: Verdichtung abgeschlossener Arbeitsschritte

Claude Code demonstriert dies elegant mit seiner "Auto-Compact"-Funktion, die bei 95% Context Window-Auslastung automatisch eine Zusammenfassung erstellt.

4. Isolate - Strategische Kontextaufteilung

Die vierte Strategie teilt den Kontext strategisch auf verschiedene Agenten oder Umgebungen auf. Dies kann sowohl durch Multi-Agent-Systeme als auch durch strukturierte State-Schemas erfolgen.

Multi-Agent-Ansätze: Anthropics Forschungssystem zeigt eindrucksvoll, wie sich durch Aufteilung auf mehrere Agenten eine 90%ige Leistungssteigerung erreichen lässt. Jeder Sub-Agent arbeitet in seinem eigenen Context Window und erforscht verschiedene Aspekte parallel.

Challenges bei Multi-Agent-Systemen:

  • Bis zu 15× höhere Token-Kosten
  • Komplexe Koordination zwischen Agenten
  • Schwierigkeit bei der Ergebniszusammenführung

State-Schema-Isolation: Eine elegantere Alternative ist die Verwendung strukturierter State-Objekte. Statt alle Informationen in einer Nachrichtenliste zu sammeln, werden verschiedene Informationstypen in separaten Feldern gespeichert und nur bei Bedarf dem LLM präsentiert.

Praktische Umsetzung

Tools und Frameworks

LangGraph hat sich als besonders geeignet für Context Engineering erwiesen, da es vollständige Kontrolle über jeden Schritt des Agent-Workflows bietet. Dies ermöglicht es Entwicklern, eigene Context-Engineering-Strategien zu implementieren, ohne durch Framework-Abstraktionen eingeschränkt zu werden.

LangSmith bietet die notwendige Observability, um Context Engineering zu optimieren. Durch detailliertes Tracing lässt sich nachvollziehen, welche Informationen dem LLM zu welchem Zeitpunkt zur Verfügung standen.

Best Practices

  1. Instrumentierung first: Ohne Monitoring der Token-Nutzung ist Context Engineering unmöglich
  2. State-Schema definieren: Strukturierte Datenhaltung statt einfacher Nachrichtenlisten
  3. Tool-Boundaries nutzen: Kompression an natürlichen Schnittstellen implementieren
  4. Einfach anfangen: File-basierte Memory-Systeme vor komplexeren Lösungen
  5. Parallelisierbarkeit prüfen: Multi-Agent nur bei gut teilbaren Aufgaben

Herausforderungen und Grenzen

The Bitter Lesson

Rich Sutton's "Bitter Lesson" warnt davor, zu viel Ingenieursaufwand in Techniken zu investieren, die durch bessere Modelle obsolet werden könnten. Kontinuierliches Lernen könnte beispielsweise externe Memory-Systeme überflüssig machen.

Komplexität vs. Nutzen

Context Engineering kann schnell sehr komplex werden. Es ist wichtig, die Balance zwischen Aufwand und Nutzen zu finden. Nicht jede Anwendung benötigt ausgefeilte Multi-Agent-Systeme oder komplexe Memory-Hierarchien.

Debugging und Nachvollziehbarkeit

Je komplexer die Context-Engineering-Systeme werden, desto schwieriger wird es, Fehler zu finden und das Verhalten nachzuvollziehen. Gute Observability wird daher zur Pflicht.

Die Zukunft des Context Engineering

Emerging Patterns

Die Prinzipien des Context Engineering sind noch jung, aber es zeichnen sich bereits Patterns ab:

  • Human-in-the-Loop Integration: Context Engineering als Grundlage für effektive Mensch-Maschine-Kollaboration
  • Adaptive Context Management: Systeme, die lernen, welcher Kontext in welchen Situationen relevant ist
  • Cross-Agent Communication: Bessere Protokolle für die Koordination zwischen Agenten

Integration in Entwicklungstools

Moderne Entwicklungsumgebungen wie Cursor und Windsurf integrieren bereits Context-Engineering-Prinzipien in ihre Workflows. Diese Tools zeigen, wie Context Engineering die Entwicklererfahrung verbessern kann.

Fazit

Context Engineering ist mehr als nur ein neuer Buzzword – es ist eine fundamentale Disziplin für die Entwicklung zuverlässiger KI-Systeme. Während die Modelle immer leistungsfähiger werden, bleiben die Prinzipien der intelligenten Kontextverwaltung relevant.

Die vier Strategien Write, Select, Compress und Isolate bieten einen praktischen Rahmen für die Entwicklung robuster Agenten. Wichtig ist dabei, nicht jede Technik überall anzuwenden, sondern gezielt die Methoden zu wählen, die für die spezifische Anwendung den größten Nutzen bringen.

Context Engineering steht noch am Anfang seiner Entwicklung. Wer heute diese Prinzipien versteht und anwendet, legt den Grundstein für die nächste Generation intelligenter Softwaresysteme.


Quellen und weiterführende Literatur: